20April
2014

China und der Scheinriese Herr Tur Tur

Ein bisschen Überzeugungsarbeit war notwendig, aber irgendwann ist es mir doch gelungen, Nelly für die Abenteuer von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer zu gewinnen. Seitdem wird jeden Morgen beim Zähneputzen eine der drei Hörspiel-CDs eingelegt und das greußlich Zetern von Frau Mahlzahn begleitet uns regelmäßig beim Morgen-Kaffee.

Nach erfolgreicher Durchquerung des Tals der Dämmerung treffen Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer bekanntlich auf den Scheinriesen Herrn Tur Tur. Eine riesige schreckenseinflößende Gestalt aus der Ferne betrachtet, die bei Betrachtung aus der Nähe aber auf einen gewöhnlichen, einsamen älteren Mann zusammenschrumpft. Herr Tur Tur ist nur scheinbar ein Riese - also ein Scheinriese, der immer größer wird, je weiter er sich entfernt und immer kleiner, je näher er kommt.

In China verhält es sich bei vielen Sachen wie mit Herrn Tur Tur. Von weit weg betrachtet sieht alles, super klasse, edel, schick und prunkvoll aus. Je näher man jedoch kommt, desto mickriger, gewöhnlicher und soger schäbiger wird alles. Meine Kollegen sagen dazu auch, China sei ein 10m Land. Bis auf 10m Entfernung sieht alles gut aus, aber dann....

Ein Beispiel: Unsere Siedlung. Aus der Ferne alles klasse. Raumgreifend, sauber, gepflegt und ordentlich.

Bei näherer Betrachtung ist es aber dann oft rostig, kaputt, schmutzig und vergammelt.

Interessant ist natürlich jetzt die Fragen, warum das so ist. Einen wichtigen Grund dafür spielen sicherlich die harten Witterungsbedingungen. Im Winter ist es knochtrocken und sehr kalt, dafür dann aber im Sommer unerträglich schwül und feucht. Denke für jede Art von Material ist das wirklich sehr schwer zu ertragen. Für uns Menschen natürlich auch.

Ein weiterer Grund - gerade bei Immobilien mögen die ungeklärten Besitzverhältnisse sein. In China ist es ja nach wie vor nicht möglich Eigentum an Grund und Boden zu erwerben. Wenn man eine Wohnung kauft - was die Chinesen ja wie die Wahnsinnigen machen - erwirbt man lediglich ein zetilich begrünztes Nutzungsrecht an der Immobilie. In der Regel beträgt dieses zwischen 50-70 Jahren. Wie es danach weiter geht, ist dann erstmal ungeklärt - aber wen interessiert schon was in 50 Jahren passiert?

Den Hauptgrund seh' ich persönlich aber in der rasanten Wirtschaftsentwicklung der letzten 30 Jahre. Das ist einfach zu schnell gegangen für die Menschen hier. Wer permanent neue Wolkenkratzer entstehen sieht, lernt das bestehende nur schwer zu schätzen. Alles ist irgendwo immer im Wandel begriffen. Kann man von Arbeitern erwarten, dass die ihre Arbeit ordentlich und nachhaltig erledigen, wenn deren Familien tausende von Kilometern entfernt leben und sich Arbeitgeber und Jobs ständige wechseln?

Probleme sehen ist immer einfach, aber die Ursachen zuzuordnen oder sogar abzustellen, deutlich schwerer.